
Lange Zeit galt das Funktionieren der Sinnesorgane allgemein als etwas völlig Selbstverständliches. Doch heute zeigt sich, dass immer mehr Kinder unter Sinnesstörungen leiden, unter Sprachentwicklungsstörungen, mangelnder Geschicklichkeit in ihren Bewegungen, Verhaltensauffälligkeiten, Fettleibigkeit. Das hat schwerwiegende Folgen. Wenn die Sinne nicht genügend entwickelt sind, leidet die Lernfähigkeit. Damit es nicht so weit kommt, können wir als Eltern vorbauen, indem wir unsere Kinder viel mehr selbst machen lassen, denn Eigenaktivität ist die beste Garantie für eine gesunde Sinnesentwicklung. Und so sind die Kinder auch veranlagt.
Kinder kommen sinnesfreudig zur Welt
Kinder wollen sich bewegen. Sie wollen Neues entdecken und ausprobieren. Sie interessieren sich für alles und wollen es erkunden. Jeder Sinneseindruck, jedes Schmecken, Greifen, Tasten, Riechen, Sehen, Hören ergreift ihren ganzen Leib. Jeder Sinneseindruck wirkt also auch auf alle Organe, die ja in den ersten sieben Lebensjahren ihre endgültige Form ausbilden – die Form also, die dann ein Leben lang bleibt.
Kinder sind sinnesfreudig veranlagt. Ihrer Natur nach wollen sie – in Wachzeiten – ständig selbst aktiv sein. Alles in die Hand, in den Mund nehmen. Sie wollen fühlen, klopfen, selber erproben. Beim Spaziergang ist nicht der kürzeste Weg der schönste, sondern der, welcher am meisten Bewegungsfreude verschafft. So kommt man mit den Kleinen oft nur dreihundert Meter voran – denn was ist es doch für eine Lust, kurze Strecken hin- und wieder zurückzurennen oder einen Hügel hinauf- und wieder hinunterzulaufen! Und überall liegt etwas Interessantes, das zum Anfassen lockt: ein Stöckchen, eine Blume, ein Blatt. Auch die Größeren nehmen gern allerlei Umwege in Kauf, sobald eine Pfütze oder ein Laubhaufen Bewegungslust verheißt. Hier ein Geländer, unter dem es sich geschwind hindurchschwingen lässt, dort ein Mäuerchen, das zum Balancieren einlädt, da ein Zaun, an dem die Finger entlangstreifen wollen, oder ein Bürgersteig, der dazu reizt, die Füße immer nur auf jeden zweiten Pflasterstein aufzusetzen. Volle sinnliche Genüsse für Hände, Augen, Ohren und Füße, für den ganzen Körper.
Die Basissinne
Beachtenswert, dass Kinder in den ersten Jahren vor allem ihre Basissinne aktivieren wollen. Das sind die Sinne, die direkt auf den eigenen Körper bezogen sind: der Eigenbewegungssinn; der Gleichgewichtssinn; der Lebenssinn; der Tastsinn.
Der Eigenbewegungssinn: Dieser Sinn regt sich beim Kind durch das, was sichtbar vorgemacht wird. Was die Eltern tun, wird mitbewegt und nachgeahmt. Der Eigenbewegungssinn veranlasst das Kind, stehen und gehen zu lernen – sowie alle anderen Dinge, die wir Großen vorleben.
Der Gleichgewichtssinn: Kinder wollen sich bewegen. Ständig, wenn sie wach sind. Sie brauchen reichlich Gelegenheit dazu, denn so üben sie – von sich aus – die eigene Bewegungsgeschicklichkeit.
Der Lebenssinn: Dieser Sinn lebt in dem tiefen Verlangen der Kinder nach Geborgenheit. Unbewusst erlebt und empfindet das Kind: «Ich fühle mich erwünscht, geborgen, ich darf Kind sein, ich darf spielen. Ich muss nicht dauernd diskutieren, ob ich das will oder jenes, sondern die Eltern übernehmen selbst Verantwortung.»
Der Tastsinn: Er wird durch sicheres, liebevolles Halten und Umarmen genährt, genauso wie durch forschende Eigentätigkeit: Die Kinder wollen alles anfassen, in den Mund nehmen, probieren, ergreifen. Auch durch Spielen, Experimentieren und Mitarbeiten wird der Tastsinn angeregt.
Diese vier Körpersinne sind maßgeblich für eine gesunde Entwicklung. Sie sind die Basis. Je mehr diese Basissinne beansprucht sind, desto umfassender gelingt es dem Kind, sich in seinem eigenen Leib zu beheimaten. Natürlich sind diese Sinne nicht isoliert aktiv, sondern wirken zusammen mit Sprachsinn, Sehsinn, Hörsinn, Geruchs- und Geschmackssinn und weiteren Sinnen.
Gesunde Sinnesentwicklung
Mit den Sinnen verhält es sich ebenso wie mit den Muskeln: Nur wenn sie gefordert sind, können sie sich entwickeln.
Das bedeutet: Kinder brauchen in den ersten Lebensjahren jede Menge Gelegenheiten, selbst aktiv zu sein. Nur durch Eigenaktivität können die Sinne ausgebildet werden. Kinder bleiben offen und neugierig und bewahren ihr Interesse an der Welt.
Nimmt die Entwicklung der Sinne nicht den Weg, den die Natur vorgesehen hat, so lässt sich zwar - später die Arbeit der Natur nicht übernehmen und alles wieder in Ordnung bringen; doch mit therapeutischer Behandlung lässt sich noch einiges nachholen.
Mitarbeiten und tun macht klug
Kinder arbeiten gerne mit. Sie wollen das Gleiche machen wie wir Großen. Für Kinder ist es kein Vorteil, wenn wir zu ihnen sagen: Geh schön spielen, ich koche inzwischen, ich mache die Küche, den Haushalt. Denn sie wollen helfen auch bei der Hausarbeiten, wie abstauben, Tisch decken, Karotten schneiden, Apfel & Gemüse mit dem Schäler schälen, beim Backen, im Garten, wenn etwas repariert wird. Von sich aus. Nebenher können sie natürlich mit Mama oder Papa plaudern.
Das ist beste Beziehungspflege. Und es ist praktische Sinnesschulung: Das Kind erwirbt sich dadurch viele Fähigkeiten. Und das stärkt sein Selbstwertgefühl: "Ich kann etwas!". Das macht lebenstüchtig. Und es ist für alle Kinder wichtig, dass sie lebenstüchtig werden.
Wieder in Ordnung bringen
Zu einer guten Sinnesausbildung in den ersten Lebensjahren gehört, selber ein Ziel zu erreichen, ohne dass gleich der Erwachsene zu Hilfe eilt. Sich als Kind auch mal weh tun zu dürfen, ohne dass die Eltern in Panik geraten. In Pfützen springen und auch mit Wasser, Dreck, Lehm und Erde spielen zu dürfen, ohne gleich ausgebremst zu werden. Und wenn die Kinder dann schmutzig sind? Dann werden sie wieder sauber. Und sie helfen dabei mit. Auch diese Sinneserfahrung brauchen Kinder: mithelfen, die schmutzigen Schuhe zu putzen oder die Hose in einem Eimer mit Wasser vorzuwaschen, bevor sie in die Waschmaschine kann.
Reizüberflutung
Wir sind ja alle täglich einer Überstimulierung der Sinne ausgesetzt: laute, bunte Werbung, ständig Geräuschkulissen – überall dudelt es, blinkt es, drängen uns künstliche Aromen aus irgendwelchen Ecken entgegen. Als Erwachsene können wir sagen: Da halt ich die Nase zu, da lege ich meine Hände auf die Ohren. Da schau ich gar nicht erst hin. Doch Kinder können sich überhaupt nicht schützen. Sie nehmen diese künstliche Welt ungebremst in sich hinein. Wichtig, dass es zu Hause nicht auch noch so weitergeht: der erste Griff zur Fernbedienung, zur technischen Unterhaltung. Wieder neue Bilder und Geräusche, die hereinströmen, selbst wenn die Radiomusik nur im Hintergrund tönt – Kinder brauchen zu Hause die Möglichkeit zum Rückzug. Einfach mal Pause, Schluss. Andernfalls werden sie definitiv daran gehindert, bei sich selber anzukommen. Auch das ist wichtig für eine gesunde Sinnesentwicklung: dass ich mich als Kind selbst spüre. Dass mir auch mal langweilig sein darf, ohne dass gleich wieder eine Aktion von den Eltern vorgeschlagen wird. Ohne Flimmerkiste.